(Disclaimer, wie immer: wenn ich von ADHSler schreibe, meine ich damit alle Geschlechter. Das gilt für alle Benennungen, die man theoretisch gendern könnte).

Auf allen Kanälen erfährt man inzwischen etwas über die ADHS, ob man danach sucht oder nicht.
Aber es konzentriert sich meist auf die ganzen negativen Symptome und wenn die positiven benannt werden, dann stiefmütterlich ans Ende gequetscht. Quasi als Akt der “political correctness”.

Eine niederländische Forschungsgruppe hat in einer Studie von 200 Betroffenen (was jetzt nicht so sehr viele sind) nach ihren von ihnen als positiv empfundenen Eigenschaften befragt. Es kamen insgesamt mehr als 50 verschiedene Eigenschaften zusammen, die sich natürlich bündeln lassen. Auch wenn ich mich in meiner Liste jetzt nicht auf die Ergebnisse der Studie stütze (ich habe sie erst aufgestellt, dann die Studie gefunden), möchte ich sie hier in jedem Fall nennen und natürlich verlinke ich sie unten, zusammen mit weiteren interessanten Artikeln.

Hier meine nicht abschließende Liste positiver Eigenschaften von ADHSlern.
Wie auch nicht alle Negativsymptome auf jeden ADHSler zutreffen (bis auf die drei bzw. zwei Leitkriterien, die zur Diagnose zwangsläufig dazu gehören), treffen natürlich auch nicht alle Positivkriterien auf alle ADHSler zu. Aber jeder Betroffene wird sich in einer Vielzahl wiederfinden (und wem welche fehlen – und es fehlen sicher welche – bitte mir gern per mail zuschicken. Ich ergänze die Liste gern kontinuierlich. Offen bin auch für Beispiele zu den einzelnen von mir aufgezählten Punkten. Es wäre wunderbar, diesen Blogartikel mit Lebenserfahrungen möglich vieler ADHSler zu ergänzen.)

  • Vorneweg natürlich die immer wieder herausgehobene Kreativität. Das ist nicht immer die von Michl von Lönneberga oder von Pippi Langstrumpf, auch nicht immer die eines Künstlers jeglicher Couleur, von Autoren, Fernseh- und Bühnenstars, Musiker, sondern auch die der Alltagskreativen: Ungewöhnliche Wohnungseinrichtung, geniale wirtschaftlich lukrative Ideen (die nicht immer die Menschen auf den Mars bringen wollen, sondern einfach so was geniales wie einen fidget spinner erfinden), bezaubernde Gartenkreationen, verrückte Reparaturideen, auf die kein neurotypischer Handwerker käme, die aber Jahre überdauern, Stricken, Nähen, Basteln, Tischlern, Ausflugsideen … die Liste ist endlos. Schickt mir gern eure kreativen Ideen, die ihr hattet, zu, ich sammele die gern.
  • Die Fähigkeit, Dinge miteinander zu verknüpfen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Eine unglaubliche wichtige Eigenschaft in unserer komplexen Welt und an der es leider so vielen Neurotypischen öfter mangelt.
    Damit einher geht die Fähigkeit, über den Tellerrand sehen zu können. ADHSler denken selten eingeengt, in Tunneln oder in Stereotypen.
  • Eine enorme Begeisterungsfähigkeit, wenn es sie denn dann mal packt. Es gibt eine Menge Beispiele von ADHSlern, die unglaubliche Zielstrebigkeit in bestimmten Sachen entwickeln, wenn sie nur überzeugt und begeistert von ihr sind. Gerade diese Fähigkeit auch zur Zielstrebigkeit wird oft bei Berichten und der Psychoedukation über ADHS nicht erwähnt. Es stimmt, dass gerade ADHSler es unglaublich schwer fällt, Dinge zu Ende zu bringen, in Details zu gehen, wenn das Grobe erledigt ist oder genau umgekehrt, sich in Details verlieren und das Große aus den Augen zu verlieren. Das ist sogar eins der Begleitssymptome von ADHS. Aber paradoxerweise kann die Fähigkeit zum Hyperfokus auch dazu führen, dass ADHSler unglaubliches auf Beine stellen und sie können auch eine lebenslange Zielstrebigkeit bezüglich einer Sache entwickeln. Meist findet man dadrin Aspekte von Jäger-, Entdecker- und Sammmlereigenschaften wieder. Siehe dazu die ADHS-Jägertheorie.
  • Und darum hier im Anschluss auch der Hyperfokus. Dieses fast manisch anwirkende Beschäftigen mit einer Sache, stundenlang, zu vergessen, dass der Mensch Bedürfnisse wie essen, trinken und auf Toilette gehen hat, bringt immer wieder unglaubliche Ergebnisse hervor. Manch’ ein ADHSler bringt in 16h vollem Hyperfokus mehr zustande als ein Neurotypischer in einer ganzen Woche. Manchmal liest man, dass der Hyperfokus immer Stimulation von außen bräuchte, aber das stimmt nicht. Die Stimulation kann sehr wohl auch von innen kommen. Eine Idee, die aufploppt, während man was ganz anderes macht und die Zündschnur hat Feuer gefangen. Ja, der Hyperfokus kann auch unproduktiv sein, wenn jemand sich damit Stunden vor ein Video Game setzt. Und ja, das kann dann auch Suchtcharakter annehmen. Aber auch da kann man diskutieren, inwieweit Minecraft nicht auch kreativ ist. Die Grenze ist hier beim Gaming immer zwischen “nur” Hyperfokus auf der einen und Sucht auf der anderen zu ziehen und das ist hier sicher nicht immer ganz leicht. Vermutlich aber kennt jeder von ADHS betroffener Schriftsteller, Musiker, Bastler, … (ganz viele “….”) die unglaublich produktive Kraft des Hyperfokus. Es stimmt leider, dass der ADHSler diesen Hyperfokus nur schwer steuern kann, weder “wann” er kommt noch “worauf” er sich bezieht1. Aber man kann das als ADHSler in bedingten Maße lernen. Eben genau da sollte auch eine ADHS-Psychotherapie hinarbeiten.
  • Schnelles Denken und Originalität. Das ADHS-Gehirn, ein Turbomotor.
  • Die Empathiefähigkeit und das Einfühlungsvermögen wird auch oft herausgehoben und die ist in jedem Fall zu unterstreichen. Die Reizoffenheit der ADHSler, die auch so viele negative Konsequenzen hat, führt als positive Kehrseite dazu, dass ADHSler oft sehr sensibel sind, Stimmungsschwingungen aufzunehmen. Zwar nicht bewusst, weil sie dafür viel zu unkonzentriert und innerlich abgelenkt sind, aber unbewusst tun sie es – und handeln dann impulsiv mit Helfen! Auch ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, der zu Recht immer wieder herausgehoben wird, geht damit einher. Die impulsive Wut, die dann in ihm als typisches ADHS-Symptom hochkommt, kann auch gelernt werden, positiv zu kanalisieren.
  • Loyalität und Verantwortungsgefühl. Daran mag mancher zweifeln, wenn sein ADHSler- Freund/Partner wieder mal eine Termin vergessen hat, nicht wie versprochen noch schnell vorm Nachhausekommen einzukauft, es nicht auf die Reihe bekommt, endlich das Bad wie abgemacht zu putzen, seine halbvolle Kaffeetasse im Schuhschrank stehen lässt und zum zehnten Mal am Tag sein Handy verlegt. Aber wenn ein Freund Hilfe braucht, dann ist der ADHSler da. Mitten in der Nacht, dann lässt er alles stehen und liegen, dann hört er zu, dann nimmt er in den Arm, dann unterstützt er. Im Alltag ist es schwierig, aber in der Not ist auf einen Freund mit ADHS Verlass.
  • In die ähnliche Richtung bzw. in dieselbe Kiste gehört die ausgeprägte Hilfsbereitschaft von ADHSlern.
  • ADHSler bleiben jung und haben lebenslangen Spieldrang. Man könnte natürlich auch böse sagen: Sie bleiben Kindsköpfe, aber das ist Beleuchtungsansicht. Sie lieben auch als Erwachsene noch den verknoteten Schneidersitz, widerstehen auch als 30 Jährige schwer dem Drang, immer nur in die Kästchen einer Wegbepflasterung zu treten und werden noch mit Mitte 50 von Spielplätzen mit Rutschen und Seilbahnen magisch angezogen. Gerade hier ist die Liste der witzigen und skurrilen Beschreibungen endlos. Schreibt mir!
  • Ausgeprägte soziale Kompetenzen. Ja, eindeutig, auch wenn ein Kriterium der ADHS Diagnose nach dem ICD-10 eine “Distanzstörung” sein kann und im WURS-k Test zu den Symptomen in der Kindheit negatives Sozialverhalten abgefragt wird. Aber was als Kind anstrengend und gesellschaftlich nicht gewünscht ist, kann als Erwachsener positiv umgeswitched werden und gerade Frauen gelingt das im Alter oft. Ich habe dazu einen Extra-blogartikel “Sozialibilität bei ADSHlerInnen”. Gerade ADHSlerinnen sind spontan, offen, kommunikativ, vernetzen sich gern. Die meisten ADHSler, wenn sie nicht von einer Depression gebeutelt werden, sind fröhlich, spritzig und reißen andere in ihrer Begeisterung mit.
  • Flexibilität wird auch oft genannt und bleibt dann im Erwachsenenalter erhalten, wenn man nicht aus verzweifelter Coping-Strategie heraus, um den Alltag mit ADHS zu managen, sich eine Zwangsstörung antrainiert hat. Grundsätzlich ermöglicht einem aber gerade die Neugierde, das Begeisterungsfähigkeit, die Kreativität, die Fähigkeit, Dinge mit einander zu verknüpfen, um die Ecke zu denken es einem sehr flexibel sich immer wieder auf neue Dinge einzustellen, Herausforderungen anzunehmen und zu bewältigen.

1 Es gibt übrigens bisher keine validen Studien zum Hyperfokus bei ADHS, auch keine befriedigenden neurologische Erklärungsversuche, zumindest habe ich keine gefunden (und auch andere ADHS-Spezialisten, die ich bisher gefragt habe, kannten keine), obwohl er inzwischen als typisches ADHS Symptom anerkannt ist. In den aufgeführten Links findet ihr eine Studie allgemein zum Hyperfokus (nicht nur ADHS spezifisch) und was ich sonst noch so gefunden habe. In einem medizinischen Manuel gibt es ein längeres Kapitel zum Thema. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-44404-7_3. Weitere links zum Thema: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7851038/https://adhs-kompakt.de/adhs-hyperfokus/https://gedankenwelt.de/hyperfokus-bei-adhs-was-du-wissen-solltest/https://www.adhspedia.de/wiki/Hyperfokus

Aus der o.g. Studie des niederländischen Forscherteams (Link zur Studie:
https://www.frontiersin.org/journals/psychiatry/articles/10.3389/fpsyt.2022.922788/full):

Aus https://www.spektrum.de/news/welche-staerken-haben-menschen-mit-adhs/2073240 , indem aus der o.g. Studie folgende Statistik erstellt wurde.

Spannend auch diese Tabelle, die die “negativen” ASHS Kriterien positiv umdefiniert, warum ein Jäger früher diese Eigenschaften gut gebrauchen konnte. Thom Hartmann hat diese Theorie 1997 entwickelt.

Mehr zu der Theorie:
https://www.adhspedia.de/wiki/ADHS_als_genetische_Normvariante