Disclaimer: Diese Kurzgeschichte beginnt zwar humoristisch, aber endet mit Mißbrauch. Diese Geschichte soll IN KEINEM FALL die zahlreichen, schlimmen und tatsächlich stattgefundenen Mißbrauchsfälle in Frage stellen, das möchte ich hier deutlich betonen!

Es riecht nach verbranntem Toast. Ich drehe mich verwirrt um. Bin ich so übermüdet, dass ich mich nicht mehr erinnere, dass ich eine Scheibe Brot in den Toaster gesteckt habe, nachdem ich in die Küche geschlurft gekommen bin? Ich gehe zum Toaster. Der ist leer. Ich öffne den Brotkasten. Auch da gähnende Leere. Ich schüttele unwillig den Kopf und beginne theatralisch schnüffelnd durch die Küche zu laufen wie ein Hund, der auf der Spur eines geflüchteten Kaninchens ist. Meine Nase bringt mich zum geöffneten Fenster. Ich schaue die vier Etagen am Hochhaus herunter. Der Geruch kommt von draußen, aus einem der unteren Stockwerke. Sehen kann ich nichts, auch keinen Rauch. Nur dieser starke Geruch einer inzwischen garantiert komplett verkohlten Brotscheibe zieht mir in die Nase.
“Fuck! Erst keinen Kaffee mehr da und jetzt noch verbrannter Toast! Scheiß-morgen!”, höre ich eine extrem verärgerte Stimme. Ich grinse. Aha, das ist der Nachbar aus dem zweiten Stock. Ich schnappe mir die Dose mit meinem Kaffeepulver, flitze durch den Flur, bleibe kurz am Spiegel stehen, prüfe die Ringe unter meinen Augen, gegen die ich jetzt leider so schnell nichts machen kann und sause auf Socken und im Schlabber T-Shirt die Treppe herunter. Als ich vor seiner Tür stehe, halte ich einen Moment inne, während mein Finger bereits wenige Zentimeter über dem Klingelknopf schwebt, unter dem auf einem sich fast ablösendem provisorischen Klebezettel: “Jakob Mehlwurm” gekritzelt steht. Eines dieser Provisorien, die dann offenbar doch eine Ewigkeit halten müssen, denn Jakob Mehlwurm ist schon vor über einem Jahr hier eingezogen und hat offenbar noch immer kein anständiges Türschild. Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Wie soll man jemanden ernst nehmen, der so heißt? Nomen est omen. Wie findet man eine angesehene Arbeitsstelle, wenn man seinen Lebenslauf mit so einem Namen einreicht? Aber Jakob Mehlwurm muss einen ganz passablen Job haben, außer, er hat sein ganzes Jahresgehalt einzig in einen nigelnagelneuen Tesla investiert und lebt sonst arm wie eine Kirchenmaus. Bei Männern ist alles möglich.
Ich klingele, zaghafter, als es meinem rasanten Treppenhüpfen entspricht. Ich höre energische Schritte, die die ganze männliche Wut über den fehlenden Kaffee und den verbrannten Toast wiederspiegeln. Er reißt die Tür auf. “Ja?!”Ich halte ihm die Dose mit Kaffeepulver hin, fast wie ein Schutzschild zwischen ihn und mich, am liebsten hätte ich noch die Schultern eingezogen. “Hä, was soll das?” Mit etwas unhöflichen Blick starrt er mich an und ich bin einen Moment versucht, einfach wieder umzudrehen. Sollte eine emanzipierte, selbstbewusste Frau sich so einen Ton gefallen lassen? Vielleicht ist Jakob Mehlwurm doch nicht so toll, wie sie immer den Eindruck hat, wenn er mir unten im Hausflur begegnete und mich nett und charmant anstrahlt?
“Äh, Kaffeepulver?”, murmele ich plötzlich eingeschüchtert und zeige auf die Dose. Es braucht eine Weile, man kann es förmlich rattern hören in Jakob Mehlwurms Kopf. Dann geht plötzlich ein breites Grinsen über sein Gesicht, begleitet von einem taxierenden Blick auf mich, einmal hoch und runter und wieder zurück. Ich fühle mich unwohl. Ich bin gerade erst aus dem Bett gekommen, habe eine dünne Legging und ein T-shirt in Übergröße an, meine Füße stecken in Stoppersocken mit Sternchenmuster. Meine halblangen, zum Teil ergrauten Haare wuseln sich offen um mein schmales Gesicht, das bereits mit vielen kleinen Falten um Augen und Mund durchzogen ist. Mit Ende Vierzig kriecht man morgens nicht mehr wie der junge Frühling aus dem Menopausen-durchschwitzten Bett. Aber auch Jakob Mehlwurm sieht um diese frühe Morgenstunde nicht mehr aus wie der tatkräftige junge Held mit Schwert und Schild, bereit für die mutige Drachenjagd. Er muss wenigstens Anfang fünfzig sein, der fehlende Kaffee als Muntermacher steht ihm im zerknitterten Gesicht geschrieben. Ich entschuldige damit seine schlechte Laune, sonst wäre ich wohl doch umgedreht.
“Hey, wie denn das jetzt? Wie weißt du denn, woher…? Na, egal, komm’ rein, ja, mir ist tatsächlich der Kaffee ausgegangen. Und ohne Kaffee bin ich morgens nur ein halber Mensch. Wie heißt du nochmal?” – “Ellen.” – “Fein, hereinspaziert, Ellen.” Jakob wird wieder charmant. Ob er mich im Schlabber T-shirt und Sternchenstoppersocken trotzdem attraktiv findet, oder er so nach Kaffee giert, dass ihm die Überbringerin desselben wurscht ist, kann ich nicht ausmachen.
“Und ich ohne Toast. Hast du noch einen unverbrannten?”, lüge ich, die morgens selten etwas isst. Erstaunt sieht er mich an, fragt aber nicht weiter nach.
“Joah, noch eine ganze Packung, muss nur noch die verkohlten Krümel aus dem Toaster holen.”
“Ja, bitte, sonst stinkt meine ganze Küche danach,” lache ich und Jakob sieht mich wieder verwundert an. Aber wer versteht schon Frauen, denkt er vermutlich.

Kurz darauf sitzen wir beide mit einem frisch aufgebrühten Kaffee und unverkohltem Toast an seinem Küchentisch. Es gibt Erdbeermarmelade, Nutella, noch in Folie eingewickelte Butterreste, kurz vorm Ranzigwerden, die Jakob schnell noch auf einen sauberen Tassenunterteller gelegt hat. Ich würge den Toast herunter, der Kaffee ist ok, aber bereits mein dritter und wir halten Smalltalk. Eigentlich hätte ich lieber gewusst, was für ein Geistes Kind er ist, anstatt seine Meinung über das regnerische Wetter und die ungenügende Parksituation in der Stadt zu erfahren. Etwas ungeduldig rutsche ich hin und her, meine Gedanken beginnen zu vagabundieren. “Nichts verzeihe ich einem Mann weniger als dass er mich langweilt”, denke ich etwas genervt. “Überfalle einen Mann bloß nicht gleich beim ersten Rendez-vous mit schweren philosophischen oder gar politischen Themen! Sprich nur Sachen an, die leicht sind und mit denen er sich hervorragend auskennt!”, höre ich meine beste Freundin Natascha mich warnen. Natascha ist eine Männerkennerin, sie bekommt jeden, den sie will, und kennt jeden Kniff und jeden Trick. Aber was nutzt es mir, einen völlig unspannenden Mann einzufangen?
Jakob scheint zu spüren, dass ich irgendwie abdrifte, er sieht mich durchdringend an und fragt geradeheraus: “Langweile ich dich?” Ich sehe ihn fast erschrocken an. Kann er Gedanken lesen? Ich lache verschämt auf. “Naja, ich fürchte, ich bin nicht so der small-talk Profi, auch wenn das zu Anfang einer Bekanntschaft sicher immer erst mal der richtige Weg ist”. Es klingt wie eine blöde Ausrede, aber eigentlich ist es die Wahrheit. “Über was redest du gern?”, fragt er etwas zu gönnerhaft und lehnt sich auf seinem unbequemen Küchenstuhl zurück. Dann beugt er sich noch mal nach vorn, ergreift seine Tasse mit dem längst kalten Kaffeerest und behält diese mit über der Brust überkreuzten Armen in der Hand, ohne davon zu trinken.
“Ich weiß nicht, es gibt viele Themen, die mich interessieren. Ich verfolge sehr regelmäßig die Weltpolitik, außerdem bin ich aktiv im Umweltschutz und kenne mich da auch gut aus. Außerdem finde ich Philosophie und Psychologie spannend, aber lese dazu halt nur ab und zu was, habe da jetzt also nicht so die Ahnung, halt so hobbymä…”. Er unterbricht mich. “Psychologie? Damit kann ich dienen. Was denn? Eher Schizophrenie, oder bipolare affektive Störungen oder eher Traumabewältigung? Oder vielleicht doch vielleicht Anorexia nervosa?” – “Sehe ich so aus, als hätte ich Ess-störungen?”, frage ich entsetzt. “Nein, eigentlich nicht, aber vielleicht kennst du jemanden?” Er grinst mich frech an. Ich kenne wirklich jemanden, aber das werde ich ihm nun doch nicht erzählen. Anstatt darauf zu antworten, stelle ich die Gegenfrage: ”Interessiert dich also Psychologie?” – “Ja!” Er macht eine bedeutungsschwangere Pause: “Ich bin analytischer Psychotherapeut, Traumaspezialist und habe eine Praxis mit dem Schwerpunkt Sexualtherapie.” Wow, das ist ja mal was. Zeigen möchte ich aber nicht, dass ich beeindruckt bin und sage nur: “Aha.” Seine Enttäuschung über meinen mangelnden Enthusiasmus ist ihm deutlich anzumerken. “Was würde Natascha jetzt machen”, denke ich hastig, “wie würde sie die Situation auffangen?” Bevor ich mir darüber klar werde, hat Jakob sich aber schon wieder gefangen. “Interessierst du dich für Sex?” Mir schießt das Blut in den Kopf, was mir dann so unangenehm ist, dass ich deswegen dann tatsächlich rot anlaufe, – eben deswegen, weil es mir peinlich ist, dass es mir peinlich ist, so direkt gefragt zu werden. “Wie bescheuert doch die menschliche Psyche ist”, denke ich, verärgert über mich selbst. Ich versuche es mit besonders cool-betontem Tonfall wieder wettzumachen und gebe besserwisserisch zum Besten: ”Interessieren sich nicht alle für Sex? Entweder, weil sie ihn mögen, oder weil sie ihn nicht mögen, weil sie ihn ständig haben oder weil sie ihn nie haben, aber gern hätten? Alles läuft doch über Sex. Sogar die Werbung für Kettensägen. Da sitzt eine fast völlig nackte Frau ohne Muskeln, aber in hohen Pumps in der Profi-Werkstatt und hält eine Stihl MS 291 mit gefährlich aussehendem Sägeblatt zwischen den lasziv geöffneten Beinen.” Er grinst. “Genau, Sex geht uns alle an, auch die, die keinen haben.” – “Die wahrscheinlich im Besonderen”, ergänze ich. Er grinst noch mehr. Ich hole verlorene Punkte wieder auf und höre innerlich Nataschas Beifall. “Deswegen gibt es auch fast kaum einen, den ich mit meinen Schwerpunkten nicht helfen kann.” – “Haben denn auch alle ein Trauma?”, frage ich nun doch ungläubig. “Die meisten schon, aber die wenigstens wissen es.”, antwortet er mir nun wieder ernster. Über Traumata kann man nur seriös reden, das ist mir auch klar. “Echt jetzt?”, frage ich. “Aber wir haben doch nicht alle Störungen, den einen oder anderen Normalen gibt es doch auch?” – “Ja, natürlich! Muss auch nicht jeder mit ‘nem Trauma eine Störung ausbilden. Manche stecken Traumata auch ganz gut weg. Aber irgendwie merkt man bei jedem irgendwas, nur können viele damit auch dennoch weiterleben und funktionieren, haben vielleicht nur immer wieder Konflikte in der Partnerschaft oder schwierige Eltern-Kind Beziehung oder unklare Verhältnisse im Job – aber kriegen es doch irgendwie hin. Über das Knie-gebrochene Ehen, halbwegs erfolgreiche Kinder, halten es im Job bis zur Rente aus. Eigentlich müssten alle mal ihr Leben durchforsten, sich therapieren lassen – dann gäbe es viel mehr Menschen, die ein gutes Leben führen würden.” – “Ist das nicht etwas radikal? Man kann doch nicht die gesamte Bevölkerung durch eine Therapie jagen?” – “Nein, natürlich nicht. Aber wenn das schon Teil dessen wäre, was in der Schule angeboten wird, dann würde das viel bringen.” – “Naja, der Hirschhausen hat ja schon vorgeschlagen, es sollte ein Fach “Glück” in der Schule geben. Und einige Psychologen finden ja auch, dass man Kinder in der Schule mehr darüber unterrichten sollte, wie man erfolgreich Beziehungen führt, Konflikte löst und erfolgreich kommuniziert.” – “Ja, genau, aber man sollte weit darüber hinaus gehen. So viele Störungen liegen in der Kindheit, wenn man gleich in der Zeit ansetzen würde, könnte man das Übel gleich an der Wurzel greifen.” – “Engagierst du dich in den Schulen?”, frage ich ihn, nun wirklich interessiert. Er schüttelt den Kopf: “Nein, für sowas gibt es kein Budget.” – “Mh, ja, dass stimmt, aber…”. Weiter sage ich nichts, denke jedoch an meine ganze ehrenamtliche Arbeit im Umweltschutz und die unentgeltliche Tätigkeit meiner Mutter bei der Caritas. Und seinen Tesla vor der Tür.

“Du, Ellen,” wird er jetzt wieder lockerer und unterbricht damit meine Gedankengänge, “wie sieht es aus? Hast du heute Abend schon was vor? Ist doch heute der 14. Februar, Valentinstag und allein zu Hause sitzen wäre traurig. Oder hast du jemanden, der die heute Blumen geschenkt hat?” Autsch, das sitzt wieder, ich habe noch nie jemanden gehabt, der mir Blumen geschenkt hat, weder zum Valentinstag noch zu sonst irgendwelchen Gelegenheiten. “Ja, warum nicht?”, antworte ich, beiläufiger als mir zumute ist, “was würdest du denn vorschlagen? ‘Da Lorenzo’?” Das war mein Lieblingsitaliener, auch wenn ich gar nicht so wild auf Pizza und Pasta bin, aber der macht auch hervorragende “Melanzane al’ forno”, mit viel Käse – es schmeckt fast griechisch, dabei wirkt Lorenzo allerdings eher kurdisch. Aber vielleicht ist es gerade dieser Mix aus allem. Jakob schüttelt den Kopf. “Nö, italienisch zum Valentin? Eher stillos, oder?” – “Nö, finde ich nicht”, schießt es mir durch den Kopf, aber ich nicke zustimmend. “Magst du Sushi?”, fragt er dann. “Echtes Sushi ja”, denke ich, “aber in unserer Sushibar hier ist das eher der europäische Fake aus billigem Papp-Reis mit Thunfisch und gekochtem Lachs in vermutlich getrockneten und wieder aufgeweichten Algen eingewickelt”. Dennoch nicke ich wieder zustimmend. Er ist erfreut: “Fein, dann heute Abend in die Tokyo-Bar. Dort gibt es auch sehr leckeren Reiswein. Magst du den?” – “Lieber einen Lichi-Apero, aber ein Glas trinke ich gern mal mit”, behaupte ich. Er scheint mir zu glauben, vielleicht weil er es will. Ich bin erleichtert, bei einem Psycho-spezialisten hat man immer das ungute Gefühl, dass er einen doch sofort durchschauen müsste.

Seit einer Stunde stehe ich nun vor dem Spiegel, auf meinem Bett stapeln sich die anprobierten und als unpassend deklarierten Klamotten. Der Klassiker, wie in einer schlechten Hollywood-Komödie, leider sehe ich nicht so gut aus wie Julia Roberts und mit den Damen aus Sex-in-the-city kann ich natürlich auch nicht mithalten. Wieso sind alle Liebeskomödien immer mit jungen Frauen? Warum gibt es keine Ü50-Liebesfilme? Wenn, dann höchstens peinliche Psychostreifen? Wird das heute Abend eine peinliche Komödie? Oder ein Drama? Oder eine moderne Dramödie? Dafür bin ich Spezialistin. Eigentlich hatte ich längst den Männern abschwören wollen. Ich bin zu alt, die Männer sind zu alt. Jakob sieht jetzt auch nicht mehr aus wie der erotische Titelheld von den Cora-Heften. Aber wer kann in unserem Alter noch wählerisch sein? Einen schlanken Bauch, nur ein Kinn, dafür umso mehr Haare auf dem Schädel erwarten? Ich gucke in den Spiegel. Mag ich mich? Ja, aber es fühlt sich eher an wie Mitgefühl. Immer noch besser als Mitleid, das habe irgendwann um die Anfang Vierzig dann doch überwunden. Ich sehe vor meinem geistigen Auge Jakobs Bauchansatz und den fehlenden Arsch in der Hose und höre auf, die Luft anzuhalten. Diese Jeans ist zu eng, ich fühle mich nicht wohl. “Basta mit dem ganzen Zauber!”, denke ich wütend. Ich hole meine Lieblingslegging aus dem Wäschekorb im Bad, einen leichten Tschibo-Viskose-Pullover, schminke mich fast nachlässig, kämme energisch meine Haare durch, lasse sie einfach offen und gucke nicht mal mehr prüfend in den Spiegel. Was kann der Typ schon erwarten? Egal, was er macht, was er verdient und was für ein Auto er vor der Tür stehen hat. “Nur was er vorn in der Hose und oben im Kopf hat, darauf kommt es an!”, postuliere ich laut, verlasse die Wohnung und klingele zum zweiten Mal heute an Jakob Mehlwurms Wohnungstür.

Wir sitzen ‘Da Lorenzo’. Jakob hat vergessen, sofort in der Tokyobar einen Tisch zu reservieren, was am Valentinstag unerlässlich gewesen wäre. Auch Lorenzo hatte nichts mehr frei, aber ich habe einen festen Platz in seinem kurdisch-griechischen Italo-Herzen und so hat er für mich einen kleinen Tisch aus der Abstellkammer hervorgezaubert und ihn an einem Durchgangsplatz zwischen Steinofen und Toilette gestellt. Von der einen Seite kommt die heiße Luft des Ofens, von der anderen die Geruchsschwade aus der Herrentoilette. Aber alles wird von Pizzateig-duft überlagert, Lorenzo verhält sich charmanter als mein Begleiter und ich könnte ihn knutschen. Lorenzo, nicht meinen Begleiter. Letzterer gibt sich erstmal schlecht gelaunt, ohne seinen erhofften Reiswein. Aber nach einem Glas Ecrù passito terre siciliane – angeblich hatte den eine dubiose “Nonna aus Süditalien” mitgebracht, es ist erstaunlich, wie viele Großmütter Lorenzo hat – wird Jakob doch wieder munter und gesprächig.
Erst reden wir noch über Umweltverschmutzung und ich erzähle von meinem Engagement. Irgendwann, nach der Hälfte der Flasche des sizilianischen Ecrùs, fragt er, was ich damit kompensiere. Dann, ein weiteres Glas später, warum ich keine feste Beziehung habe und keine Kinder. Für mich ist die Sache längst klar. Es hat einfach nicht gepasst. Ich habe es auch verpasst. Also, das biologische Zeitfenster. Und eigentlich war ich mir auch nie sicher, ob ich wirklich Kinder wollte. Und eigentlich bin ich mir nicht mal sicher, ob ich nicht auch Frauen mag. Nicht nur, aber auch. Vielleicht mehr. Da ist die Flasche mit dem Ecrù bereits leer. Lorenzo stellt uns einen Chianti hin. So einen Null-acht-fuffzehn Wein, aber was anderes hat er nicht mehr da, nach dem erfolgreichen Valentinsgeschäft. Wir schmecken das nicht mehr. Jakob macht einen guten Job, ich plaudere aus dem Nähkästchen. Bald sind wir bei meiner Kindheit, Lieblingsspielwiese jedes Therapeuten. Ich erzähle beiläufig von den glücklichen Kindheitsstagen mit meinen Eltern und meinen beiden älteren Geschwistern in den Ferien an der Ostsee. Jakob fragt nach meinem Vater. Nach meinem Bruder. Nach der Ferienclique meines Bruders, mit denen meine Schwester und ich oft unterwegs waren. Sie waren alle so alt wie mein Bruder, als älter als wir beiden Mädchen. Jakob hakt nach. Wie war das? Was habt ihr gemacht? Was wir das, wenn ihr versucht habt, in die 2.Weltkriegsbunker, die es überall an der Küste bei Eckernförde verstreut gibt, zu kommen? Haben die Jungs den Beschützer gespielt? Haben sie die Dunkelheit genutzt, euch beiden Mädchen Angst zu machen? Haben sie euch wie aus Versehen berührt?
Ich verliere meine Unbeschwertheit im Erzählen. Werde unsicher. Worauf will er hinaus? Auch Jakob wird immer ernster. Er greift häufiger zum Wasserglas als zum Wein. Sieht mich durchdringend an, eine Falte bildet sich auf seiner Nasenwurzel. Dann wechselt er plötzlich das Thema und fragt mich aus dem Nichts, wie meine ersten sexuellen Erfahrungen waren. Mit wem, wann, wie es mir dabei ergangen ist. Ich meine, das wäre ok gewesen, ein Schulkamerad auf unserer gemeinsamen Abifeier. Auf ihn war ich immer schon abgefahren, die gesamte Oberstufe lang. Auf dem Abiball war er betrunken genug gewesen, dass er mich plötzlich in einem anderen Licht sah. Dieses Licht schien auf mich aber nur bis zum Anbruch des nächsten Morgens, dann war das wieder vorbei und ich fühlte mich hunde-elend, wohl auch vom Alkohol. “Hast du wirklich sexuelle Erregung verspürt oder wolltest du ihm nur gefallen?”, fragt er mich. “Keine Ahnung, ich war besoffen, er auch, da empfindet man eigentlich eh’ alles nur wie durch Watte.”, antworte ich ausweichend. Er verfällt in ein scheinbares Grübeln. “Ok, lass‘ uns ein andermal weiter drüber reden. Jetzt ist es spät, ich glaube, die machen gleich zu hier.” Ich nicke nur. Lorenzo hat nur drauf gewartet und präsentiert sofort Jakob die Rechnung, die dieser ohne mit der Wimper zu zucken bezahlt und die ich ihn protestlos bezahlen lasse. Ich fühle mich plötzlich wie betäubt.

Als ich kurz darauf nur noch mit dem Viskose-Pulli bekleidet im Bett liege, kann ich nicht einschlafen. Jakob wollte mich noch auf einen Drink zu sich einladen, aber ich habe abgelehnt. Er nahm mich zum Abschied in den Arm und hielt mich lange fest umschlungen, als wolle er mich beschützen. Dann ließ er mich die Treppe nach oben zu meiner Wohnung gehen.
Ich starre an die gegenüberliegende Wand in meinem Schlafzimmer, an der die Vorhänge durch das Licht der Straßenlaterne Schatten werfen. Ich spüre den Stoff der Bettdecke über die Haut meiner Beine streichen. Eigentlich ein angenehmes Gefühl, aber jetzt fühle ich mich plötzlich nackt. Ich stehe auf und ziehe mir eine Schlafanzughose über. Bis ich endlich durch den Alkohol sediert in den Schlaf finde, ziehen immer wieder diffuse Bilder der Ferien in Eckernförde an meinem geistigen Auge vorbei. Aber es war doch eine glückliche Zeit gewesen? Wieso fühle ich mich jetzt plötzlich so miserabel und bedrückt?

Ich wache morgens verkatert auf. In meinem Alter steckt man eine ganze Flasche Rotwein nicht mehr so einfach weg. “Gott sei Dank ist heute Samstag”, denke ich und schleppe mich mit Restalkohol im Blut und brummenden Schädel in die Küche, nehme mit zusammengekniffenen Augen die kleine italienische Cafetiera, schraube sie auf, fühle Wasser hinein, öffne den Schrank, wo die Dose mit … “Mist! Verdammter! Das Kaffeepulverdose ist noch unten bei Jakob”, fluche ich. Bevor ich entscheiden kann, ob ich sie mir jetzt bei ihm wiederhole oder lieber erst Mal neuen Kaffee im Kiosk gegenüber kaufe, klopft es an der Tür. Er steht, wie ich am Vortag bei ihm, vor meiner Tür und hält mir meine Kaffeedose hin, aber ungleich selbstbewusster als ich gestern.
“Trinken wir heute den Kaffee bei dir? Ich habe auch eine halbe Packung Toast dabei.” Als wir dann an meinem spärlich gedeckten Küchentisch sitzen, – ich esse ja morgens eigentlich nie was, habe darum auch keine Marmelade da – geht das Gespräch etwas schleppend. Wir sind beide angeschlagen, auch wenn er den edlen sizilianischen Ecrù und den anschließenden billigen Chianti offenbar besser wegsteckt als ich. Wir beschließen, dass frische Luft uns beiden guttäte, und wir machen uns zu einem kleine Spaziergang auf, bei dem das Gespräch wieder Fahrt aufnimmt. Sokrates hatte Recht, dass er zum Anregen der Gedanken immer mit seinen Schülern durch den Park wandelte. Eine Gruppe Jungs im pubertierenden Alter hängen auf und um eine Parkbank herum, dazwischen sitzen zwei Mädchen, mager, geschminkt, mit langen Gel-nägeln und im bauchfreien Outfit bei winterlichen Temperaturen. Jakob betrachtet sie nachdenklich und kommt wieder auf meine Ferienerlebnisse in Eckernförde zu sprechen. Wieder stellt er diese Fragen. Nach den einzelnen Jungen in der Clique, nach dem, was wir in den Bunkern getrieben haben, wie wir die Abende an der Steilküste zwischen den großen Steinen verbracht haben. Ob ich mich wohl gefühlt hätte. Wie mein Verhältnis zu meinem Bruder war. Wie das meiner etwas älteren Schwester zu ihm. Langsam kommen Bilderschnipsel hoch, die ich sofort wieder unterdrücke. “Nein, alles Blödsinn, so’n Quatsch”, fährt es mir durch den Kopf. Aber die Bilder kommen immer wieder hoch. Es sind die gleichen Bilder aus Eckernförde, nur verändern sich unter dem Eindruck von Jakobs Fragen langsam die Szenen auf diesen Bildern. Der Björn, als wir da in dem Bunker in diesen Nebenraum gekrochen sind, der stand doch auf meine Schwester, der hat sie doch oft wie zufällig berührt… Und Kai, als wir zwischen den Felsen den von unseren Eltern aus der Bar gemopsten Schaumwein aus Plastikbechern tranken. Ich fand Kai ja eigentlich irgendwie toll… und mein Bruder? Mein Bruder, als er mich um die Taille fasste und mich festhielt, damit ich angetrunken nicht von den Felsen rutschte…
Plötzlich schreie ich Jakob an: ”Nein, alles nicht wahr! Meine Schwester war ja auch dabei! Das ist alles Quatsch!” Jakob nimmt mich sanft an den Schultern, dreht mich zu sich: ”Was ist Quatsch, Ellen, was? Was siehst du? Was für Bilder kommen hoch? Und deine Schwester? Habt ihr je über die Tage später geredet, wenn ihr dann wieder zu Hause wart? Oder habt ihr danach die Ferienzeit wieder verdrängt?” Entsetzt sehe ich ihn an. “Meine Schwester ging damals ins Internat, weil sie das so wollte. Nach den Ferien ist sie immer sofort wieder gefahren. Nein, natürlich haben wir nicht über die Ferien geredet, wir hatten ja gar keine Gelegenheit…”, flüstere ich mit belegter Stimme. Jakob fragt nach: “Wieso wollte sie ins Internat? Das ist aber ungewöhnlich. Was hatte sie für ein Verhältnis zu eurem Bruder? Zu deinem Vater?” – “Ein gutes! Wir hatten alle ein gutes Verhältnis. Wir haben das bis heute!”, verteidige ich meine Familie mit erstickter Stimme. “Seht ihr euch oft?”, fragt Jakob sanft. “Nein, meine Schwester Martina ist in den USA und mein Bruder mit der Bundeswehr auf Auslandseinsatz. Aber wir haben eine Whatsapp Familiengruppe und schreiben uns oft!” Wieder habe ich das Gefühl, ich muss uns Geschwister verteidigen. “Whatsapp ist smalltalk und gibt nur ein Scheingefühl von Verbundenheit.”, sagt Jakob langsam. Ich reiße mich von ihm los. “Das ist alles…, alles, … das stimmt alles nicht!” Ich fange an zu Weinen. Jakob zieht mich wieder an sich, nimmt mich in den Arm. “Versuch’ dich zu erinnern. Gibt es was, was du verdrängst? Hast du Erinnerungslücken? Bruchstücke, die so nicht zusammenpassen, weil dazwischen etwas fehlt?” Mir läuft es siedend heiß den ganzen Körper hinunter. Ich habe schon von diesen Total-Amnesien gehört. Dass Menschen etwas komplett ausblenden, sich wirklich nicht erinnern. Es steigen wieder Bilder in mir auf. Die Lücken der Erinnerungen fangen an sich zu schließen. Ergeben ein geschlossenes Bild. Ein ganz neues Bild. Ein schreckliches Bild. Meine Knie zittern. Ich spüre schlagartig den Restalkohol. Mir wird schlecht. Ich reiße mich von Jakob los, renne zu einem Busch und übergebe mich.

Ich sitze auf der Terrasse der Klinik und lasse mir die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen. Innerlich spüre ich nur Kälte. Ich habe mich stationär einweisen lassen und mit viel Glück in nur wenigen Wochen einen Platz bekommen, vielleicht auch Dank Jakobs Einsatz und beruflichen Verbindungen. Die ganze Erinnerung war nach und nach zurückgekommen. Ich hatte alles komplett so verdrängt, als wäre es nie passiert. Jakob hat so etwas schon öfter in seiner Praxis gehabt, sagte er mir. Mit analytischen Therapiemethoden holt er dann solche Erinnerungen wieder hoch. Ich warte auf meine Schwester Martina. Sie ist gerade aus den USA zu einem Besuch in Deutschland. Ich freue mich auf sie, aber habe auch unendlich Angst davor. Wie soll ich ihr begegnen? Was weiß sie noch? Hat sie mir das alles Jahrzehntelang verheimlicht?
“”Ellen, mein Gott, wie geht es dir?”, höre ich plötzlich die Stimme meiner Schwester hinter mir. Fast erschreckt drehe ich mich um, obwohl ich ja wusste, dass sie jetzt kommen würde. “Martina, da bist du ja, ich dachte, du wolltest schon vor zwei Stunden da sein”, sage ich und es klingt wie ein Vorwurf, ohne dass es einer sein soll. Wir umarmen uns. Oder besser: Sie nimmt mich in den Arm, hält mich fest und drückt mich an sich, während ich wie ein lebloser Sack in ihrer Umarmung hänge. “Ich bin etwas später, weil deine behandelnde Ärztin Dr. Niemaier mich vorher sehen wollte. Ellen, Himmel, wie schrecklich, was ist denn das alles für ein Bullshit? Wieso hast du mich nicht angerufen? Wieso hat mich dein Therapeut, dieser Mehlwurm, mich nicht kontaktiert?“ – „Das wollte ich nicht, ich wollte es erstmal mit mir klarkriegen, was passiert ist. Ich .. Ich konnte nicht mit dir über Telefon reden.” Ich beginne zu weinen, lasse mich in ihren Arm gleiten, werde dann wieder steif, will mich von ihr losmachen. Martina nimmt mein Gesicht in ihre Hände, sieht mir in die Augen, ich will ihr ausweichen. “Ellen, das ist alles Quatsch, das stimmt alles nicht! Verdammt, das ist alles nie passiert, was du dir da hast einreden lassen! Nichts von alledem ist wahr!” – “Martina, ich erinnere mich jetzt wieder an alles genau”, insistiere ich vehement, leise füge ich hinzu:” Und du doch auch…”. Martina protestiert: “Ich? Gar nichts ‘ich’. Nichts war. Wir haben Spaß in der Clique gehabt wie alle jungen Menschen in dem Alter. Mit dem Björn habe ich mal rumgeknutscht, weil ich den süß fand, ich war schließlich schon 14. Du warst 11 oder so und etwas in den Kai verknallt gewesen, glaube ich, der hat dich aber gar nicht ernst genommen, du warst eine kleine Göre in seinen Augen. Ellen, du hättest niemals so etwas vergessen können, wenn dir je etwas so schreckliches passiert wäre”. Ich sehe Martina das erste Mal an, durch verheulte Augen.
In dem Moment kommt Frau Dr. Niemaier auf uns zu gehastet und herrscht meine Schwester an: “Ich hatte Sie doch gebeten, erst mich mit Ihrer Schwester reden zu lassen! Auch eine induzierte Erinnerung wieder rückgängig zu machen, braucht Feingefühl, muss psychologisch begleitet werden, das können Sie jetzt nicht einfach über das Knie brechen. Außerdem wissen wir ja noch nicht…”
“…zierte – was?”, unterbreche ich sie. Und ich bekomme eine Ahnung, was sie meint. Induzierte Erinnerung, was kann das schon sein? Etwas eingetrichtertes. So viel Fremdwörterverständnis habe ich auch.
“Dies hier ist jetzt eigentlich nicht der richtige Ort, es wäre besser, in der Praxis…”, beginnt Dr. Niemaier erneut. “Der Garten ist der perfekte Ort!”, fährt Martina der Ärztin an und sieht mich wieder eindringlich an. “Und ich will meine Schwester keine Sekunde länger in dieser falschen Erinnerung lassen! Das ist ja die Hölle! Ellen, uns ist nie so etwas passiert, weswegen du hier in psychotherapeutischer Behandlung bist.” – “Martina, ich habe ganz eindeutige Bilder, und auch du… vielleicht hast auch du die Erinnerung verdrängt und weißt es nicht mehr.” Die Ärztin nimmt ihren strengen Blick von meiner Schwester und sieht mich milde an: “Ihre Schwester hat vermutlich Recht. Dass man sich ein schreckliches Trauma als über Zehnjährige komplett überhaupt nicht mehr erinnert, kommt, wenn, nur extrem selten vor. Im Gegenteil, normalerweise können die Betroffenen der Bilder kaum Herr werden. Und dass Ihre Schwester, die damals noch älter war als Sie, sich auch komplett nicht mehr dran erinnert – die Wahrscheinlichkeit geht gegen null. Es liegen auch keinerlei Anhaltspunkte vor, dass das je alles stattgefunden hat. Mit Ihrer Mutter habe ich ja schon geredet, Ihr Vater ist ja leider schon verstorben, außerdem möchte in jedem Fall auch Ihren Bruder zu einem Gespräch bitten, wenn er von dem Auslandseinsatz wieder da sein wird. Wir können uns natürlich nicht 100% sicher sein, aber im Moment sieht alles danach aus, als habe mein Kollege Mehlwurm mit seinen suggestiven Fragen bei Ihnen Erinnerungen hervorgerufen, die es nie gab. Den Verdacht habe ich, seit Sie hier vor ein paar Tagen angekommen sind. Bei Herr Mehlwurm in der Praxis gibt es erstaunlich viele dieser Fälle von ‘Total-Amnesie’ bezüglich sexuellen Missbrauchs, das ist mir bereits mehrmals aufgefallen und …”. – “Wie kann dieser Kerl meiner Schwester so einen Schwachsinn einreden”, schreit Martina die Ärztin an, “ der gehört vor Gericht dafür, ich…”. Die Ärztin macht eine beschwichtigende, aber resolute Handbewegung. “Stopstopstop. Es geht hier nicht um Schuldzuweisung. Herr Mehlwurm hat eine gängige Therapieform zur Traumabewältigung eingesetzt. Er hatte garantiert keine bösen Absichten, etwas einzureden, er wollte vielmehr etwas aus dem Unterbewusstsein hervorholen. Herr Mehlwurm ist ein an sich guter Therapeut, er…”.
Mir dreht sich alles. Ich höre dumpf, wie Martina was erwidert, dann wieder die Ärztin, ich folge dem Streitgespräch nicht mehr, alles dringt nur wie durch Watte zu mir durch. Die ganzen Bilder kommen hoch. “Sie wirken so echt”, denke ich verzweifelt, “so unglaublich echt und wahr.” Werde ich sie je wieder aus meinem Kopf bekommen? Sie scheinen eingebrannt -fest eingebrannt, ob wahr oder unwahr. Es wird nie wieder wie früher sein. Ich spüre wieder die Frühlingssonne auf meinem Gesicht.

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Nachwort der Autorin:
Ich habe bereits zu Anfang einen Disclaimer gestellt und darauf hingewiesen, dass diese Geschichte auf einige Personen traumatisierend und verstörend wirken könnte.

Ebenso möchte ich erneut betonten, dass ich keine der vielfältigen tatsächlich stattgefundenen Missbrauchsfälle in irgendeiner Form in Frage stellen möchte. Mein Anliegen betrifft die Funktionsweise des Gehirns und der Erinnerung.


Erinnerungen sind keine festen Bestandteile des Gehirns, die man wie eingelagerte Filmrollen immer wieder einlegt und abspult. Erinnerungen sind Bruchstücke, die in völlig unterschiedlichen Hirnarealen abgespeichert werden. Es ist ein Puzzle aus Emotionen, Gefühlen, Einzelbildern, die wir jedes Mal, wenn wir sie herausholen, wieder neu abspeichern und dabei oft vorhandene Lücken irgendwie füllen. Zur Not mit Erfundenem. Der Mensch hat ein Bedürfnis nach schlüssigen Geschichten und Kausalitäten. Erinnerungen sind situative Rekonstruktionen, die sich auch aus Quellen speisen können, die gar nicht unsere eigenen sind. Wir alle kennen das, dass in der Familie immer wieder Geschichten erzählt werden, wie wir damals das und das gemacht hätten, wir meinen uns daran zu erinnern, haben sogar Bilder davon – tatsächlich können wir uns aber gar nicht daran erinnern, sondern wir übernehmen das Erzählte und legen erdachte Bilder darüber, oder übernehmen Bilder aus dem Fotoalbum. Das nennt man in der Psychologie auch „Quellenmonitoring“.
Es gibt dazu eindrucksvolle Studien und Experimente. Ein ganz bekanntes ist das “Shopping-Mall” Experiment. Studienleiter erzählten – nach Absprache mit den Eltern- den Probanden, dass sie doch damals als Kind im Einkaufszentrum verloren gegangen wären und wie denn ihre Erinnerung daran sei, ob sie traumatische Erinnerungen hätten. Erst konnten sich die Probanden nicht daran erinnern – was normal ist, da ja alles reine Erfindung war. Nach und nach kamen aber dann tatsächlich “Erinnerungen” hoch, mitsamt Bildern, auch verstärkt dadurch, dass die Studienleiter sagten, sie hätten mit den Eltern geredet. Am Ende waren Erinnerungen bei den Probanden eingepflanzt, die diese als absolut echt und als mit Sicherheit wahr empfanden. Der zweite Teil des Experiments bestand dann darin, diese induzierten Erinnerungen wieder rückgängig zu machen. Bei diesen Probanden funktionierte das dann relativ gut, da der Glaube an diese false memory nur kurz währten und auf Grund der Tatsache, dass sie erfuhren, dass es sich um ein Experiment gehandelt hatte, so, dass keine Zweifel blieben.
Leider ist es in der Therapiepraxis aber schon tatsächlich häufiger zu Fällen gekommen, wo nachweislich falsche Erinnerungen an Missbrauch “an die Oberfläche” geholt wurden, die nie stattgefunden hatten. Ich möchte mit meiner Geschichte auch auf diese Möglichkeiten hinweisen, da viele das nicht wissen, ohne tatsächliche Erinnerungen an Missbrauchsfälle in Frage zu stellen. Ich halte Psychotherapie für wichtig und segenbringend, aber als Therapeut muss man sich seiner sehr großen Verantwortung jederzeit bewusst sein. Zudem gibt es auch unter den Psychologen und Psychotherapeuten Stimmen, die es in Frage stellen, ob jedes Ereignis, das eine Person erfolgreich in die Vergessenheit verdrängt hat, wirklich wieder ins Bewusstsein geholt werden muss, wenn diese Person eigentlich bis dato ein relativ normales Leben gelebt hat. Auch diese Diskussion möchte ich anstoßen.